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Neue Zürcher Zeitung
vom 27. August 2001, Ressort Inland
Asyl
für tibetische Eigenständigkeit
Gedenken, Dank und Engagement von Flüchtlingen
Auf dem Säntis, in der Region, wo 1960/61 die ersten tibetischen
Flüchtlinge aufgenommen worden waren, hat im Rahmen mehrerer Veranstaltungen
eine Gedenkversammlung stattgefunden. Sie galt einem Erfolgsbeispiel der
Asylpolitik, aber auch der anhaltenden Bedrängung oder Zerstörung
der tibetischen Kultur in ihrer Heimat, die für viele trotz guter
Integration im Exil Perspektive und Grund zu Engagement ist.
C. W. Säntis, 25. August
Im Herbst 1960 kamen tibetische Waisenkinder aus Indien zur Ausbildung
ins Pestalozzidorf Trogen, und ein Jahr später verschaffte ein privater
Verein 23 Flüchtlingen eine Heimstätte in Waldstatt, ebenfalls
in Ausserrhoden. Es war dies die erste Aufnahme aussereuropäischer
Flüchtlinge, und sie erfolgte in einem bewussten politischen Akt.
1963 bewilligte der Bundesrat die Einreise von maximal 1000 Personen.
Heute bilden insgesamt 2000 bis 2500 Menschen tibetischer Herkunft die
grösste solche Gemeinschaft in Europa. Etwa ein Drittel von ihnen
ist hier geboren, rund ein Viertel hat sich einbürgern lassen.
Das «Dach der Welt» auf dem Säntis
Die Aktion «Tibet auf dem Säntis» bringt die Stellung
dieser besonderen Flüchtlingsgruppe mehrfach zum Ausdruck. Die Tibeter
haben es in der Schweiz «zu etwas gebracht», beispielsweise
zum Hoteldirektor oder zur Kantonsrätin. Sie verfügen über
Sympathie und über Brückeninstitutionen, wie die Gesellschaft
schweizerisch-tibetische Freundschaft, gerade auch für ihr Bestreben,
kulturelle Eigenarten zu bewahren und die Exilregierung zu unterstützen,
also die Perspektive der Rückkehr fest im Auge zu behalten. Die Veranstaltungen
auf dem «Dach der Bodenseeregion» sind ein Gemeinschaftswerk
mehrerer Vereine und der Säntis-Schwebebahn AG, die namentlich mit
Ausstellungen immer wieder den Bezug der Menschen in der Umgebung zum
markanten Berg aufnimmt. Seit Mitte Mai und bis in den Dezember gibt eine
kleine Ausstellung Einblicke in die Situation auf dem «Dach der
Welt». Zu sehen ist auch die Tonbildschau von Manuel Bauer. Der
Photograph begleitete 1995 einen Tibeter und dessen sechsjährige
Tochter auf der gefährlichen Flucht über den Himalaja. Sie zeugt
nicht nur, indirekt, von der chinesischen Unterdrückung, sondern
auch davon, wie ein kleines Mädchen dazu bestimmt wird, ins Exil
zu gehen, um «Tibeterin zu bleiben», die traditionelle Kultur
aufzunehmen und weiter zu tragen.
Dem politischen Konzept für die Zukunft Tibets im Spektrum von Unabhängigkeit
und Autonomie (diese ist das Ziel des Dalai Lama) war eine Tagung am Sonntag
gewidmet. In einer Woche werden positive und negative Folgen des Tourismus
erörtert. An einer Pressekonferenz unter der Leitung von Hans Gammeter,
Koordinator des Programms, machte Kalsang Chokteng, Präsident der
Tibeter-Gemeinschaft Schweiz, auch auf die Sammlung «Keep Tibet
Alive» aufmerksam. Unterstützung brauchen - «die Zeit
arbeitet gegen uns» - der Unterricht in tibetischer Sprache und
Schrift, die Folkloregruppe, Weiterbildung in Demokratie (für die
einstige Theokratie), eine Beratungsstelle, die Stiftung für tibetische
Medizin und in Indien das Radio der Exilregierung.
Gedenktafel und gegenseitiger Dank
Bunte Gebetsfähnchen flatterten am Samstag über Fels und
Beton auf dem Säntisgipfel, Mönche aus Rikon sangen einen tibetischen
Alpsegen; in Ansprachen dankten Kalsang Chokteng und die Vertreterin der
Exilregierung in Genf der Schweiz für die Aufnahme, während
Jean-Daniel Gerber, Direktor des Bundesamts für Flüchtlinge,
betonte, es sei an den Schweizern zu danken, nämlich für eine
Bereicherung ihres Landes; gemeinsam enthüllten Chokteng und Gerber
eine Gedenktafel - so viel Harmonie und Bergsommer ist im Asylwesen heute
selten.
Künftig soll jährlich ein Gedenktreffen stattfinden, und geplant
ist auch die Errichtung eines kleinen Stupa - allerdings nicht zwecks
buddhistischer Missionierung, wie vorsorglich betont wurde, ermahne doch
der Dalai Lama Zuhörer anderen Glaubens jeweils, dabei zu bleiben.
Toni Hagen, damals Delegierter des IKRK in Nepal, erzählte, wie er
1960/61 die Aktion einfädelte. Für Gerber ist sie der beste
Beweis gegen die Behauptung, Integration von Menschen aus fernen Kulturen
sei unmöglich. Heute werden tibetische Asylgesuche im Einzelverfahren
geprüft. 236 positiven Entscheiden standen seit 1990 nur 10 negative
gegenüber, wobei allerdings auch eine Wegweisung nach China als zulässig
erachtet wird. Nationalrat Mario Fehr (sp., Zürich), Präsident
der parlamentarischen Gruppe für Tibet, konstatierte, dass das Recht
Tibets auf eigenständige Entwicklung in der Schweizer Bevölkerung
anerkannt sei. Er verlangte vom Bundesrat, China energisch zum Dialog
mit der Exilregierung aufzufordern und selber den Dalai Lama offiziell
zu empfangen. 50 Jahre nach der Flüchtlingsaufnahme werde man ihrer
hoffentlich in einem befreiten Lhasa gedenken.
Eine «Bestandesaufnahme», besonders auch der beteiligten
Institutionen und Vereinigungen, gibt das Buch von Peter Lindegger: 40
Jahre Tibeter in der Schweiz. Klösterliches Tibet-Institut Rikon,
8486 Rikon 2000. 219 S.
Einen Überblick bietet Gyaltsen Gyaltag in der Publikation von Heinrich
Kuhn: Berge und Rettung. Säntis-Schwebebahn AG, Urnäsch/Schwägalp
2001. 93 S.
Neue Zürcher Zeitung, Ressort Inland, 27. August 2001, Nr.197,
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