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Tagblatt vom 27.8.2001, Ostschweiz
Tibeter
auf dem Säntis
Gemeinschaft der Tibeter errichtet auf dem Dach der Ostschweiz einen
Gedenkstein
Vor 40 Jahren fanden die ersten Flüchtlinge aus Tibet in der
Säntisregion eine zweite Heimat: Anlass für die Tibeter Gemeinschaft
in der Schweiz, sich beim Gastland mit einem Stupa und einem Begegnungstag
in luftiger Höhe zu bedanken.
Bettina Kugler
Ein Paar Kinderturnschuhe in einer Vitrine erzählt vom beschwerlichen
Weg aus Tibet in die Freiheit: 1995 begleitete der Schweizer Fotograf
Manuel Bauer die sechsjährige Yangdol und ihren Vater über die
verschneiten Pässe des Himalaja nach Dharamsala - 2200 Kilometer
zu Fuss ins Exil. Der Fussweg auf den Säntis mag dagegen als launiger
Sonntagsspaziergang erscheinen. Eine Tonbildschau im Rahmen der auf dem
Säntis gezeigten Ausstellung «Flucht aus Tibet» zeichnet
die Spuren der kleinen, ausgetretenen Schuhe Yangdols bewegend nach.
40 Jahre ohne Verbesserung
Die Ausstellung «Tibet auf dem Säntis 2001» will
mit einer historischen Dokumentation, Fotografien aus dem besetzten Land,
Kultgegenständen und der Porträtserie «Die Kraft der Frauen
Tibets» an die Flucht erinnern und zugleich auf die gegenwärtige
Situation Tibets aufmerksam machen. Noch immer verlassen täglich
Menschen - und in steigender Zahl Kinder - die von China besetzte Heimat,
um ihre Religion und ihre kulturelle Identität bewahren zu können.
Die systematische Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen und ihrer Kultur
in Tibet geht indes weiter, der Dialog mit China kommt nicht voran. Kein
«Jubiläum» also, wie Hans Gammeter, Koordinator der Schwerpunktwochen,
betonte. «Es gibt nichts zu feiern, wenn ein Volk 40 Jahre im Exil
lebt, vor allem, wenn sich in dieser Zeit nichts in Tibet zum Besseren
geändert hat.»
Wichtigstes Exilland
Die Schweiz ist in den letzten 40 Jahren zum wichtigsten Exilland
der Tibeter ausserhalb Asiens geworden; hier entstand das erste tibetische
Kloster, der erste Vertreter des Dalai-Lama in Europa wurde in die Schweiz
entsandt. Im Oktober 1960 wurde die erste Flüchtlingsgruppe im Kinderdorf
Pestalozzi in Trogen aufgenommen, im August 1961, vor 40 Jahren, folgte
die Gruppe der «Aeschimann Kinder», zwei Monate später
kamen tibetische Familien nach Unterwasser. Und viele von ihnen waren
am letzten Samstag auf dem Säntis - dem Berg, der zum wichtigen geografischen
Bezugspunkt, ein Stück Heimat in der neuen Heimat geworden ist. Vom
Dach der Welt sind sie zum Dach der Bodenseeregion herabgestiegen: in
ein Land, von dem sie kaum etwas wussten, «nur, dass es viele Berge
und viel Schnee gibt», wie Kalsang Chokteng, Präsident der
Tibeter Gemeinschaft Schweiz, in seiner Rede auf der mit bunten tibetischen
Tüchern dekorierten Säntis-Aussichtsterrasse, erinnerte. Neben
ihm, noch mit leuchtend gelbem Stoff verhüllt, der Stupa: der Gedenkstein,
den die Tibeter in der Schweiz am Wochenende zum Auftakt der Schwerpunktwochen
errichtet und eingeweiht haben. Sechs buddhistische Mönche sangen
und beteten zuvor den tibetischen Alpsegen, die Vertreterin des Dalai-Lama
in Genf richtete Grussworte an die Gäste. Als Beginn einer missionarischen
Kampagne dürfe die Errichtung des Gedenksteins freilich nicht missverstanden
werden, betonte Kalsang Chokteng, auch wenn die tibetischen Organisationen
im Rahmen ihres Gastrechtes für die Rechte der Tibeter eintreten
wollten - mit friedlichen Mitteln, wie sie der Dalai-Lama propagiere.
Die Tibeter in der Schweiz dankten mit dem Stupa vielmehr für die
Toleranz und den «Mut der Schweizer, etwas Fremdes zu integrieren».
Der Säntis könne zur Begegnungsstätte der Kulturen werden
- und der Gedenktag auf dem Berg für die Tibeter in der Schweiz zur
Institution.
Dank nach beiden Seiten
Seinen Dank aussprechen wollte auch Jean Daniel Gerber, Direktor des
Bundesamtes für Flüchtlinge, der gemeinsam mit Kalsang Chokteng
den Stupa enthüllte. Er zitierte einen weiteren Ehrengast - Toni
Hagen, der in einer kurzen Ansprache sichtlich gerührt an die Umstände
der ersten Flüchtlingsaufnahme erinnert hatte. «Immer danken
die Tibeter uns, doch eigentlich müssten wir den Tibetern danken
für ihre Heiterkeit und die Kultur, die sie uns gebracht haben»,
schloss Gerber. SP-Nationalrat Mario Fehr (ZH), Präsident der Parlamentarischen
Gruppe Tibet, brachte die Hoffnung zum Ausdruck, den 50. Jahrestag der
Flucht in die Schweiz in einem befreiten Tibet feiern zu können.
Der Stupa auf dem Säntisgipfel beschränkt sich mit seiner Inschrift
auf den Blick in die Vergangenheit: «Die Schweiz nahm als erstes
Land im Westen ab 1960 tausend tibetische Flüchtlinge auf. Inzwischen
fanden 2000 Tibeterinnen und Tibeter hier eine zweite Heimat. Die tibetische
Gemeinschaft in der Schweiz dankt der Schweizer Bevölkerung und Regierung
für ihre grosse Hilfe. 25. August 2001.»
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